Küttiger-Chaise

Der kaputte Korb – Le panier cassé

Die Küttiger-Chaise kannte ich vom Hören-sagen. Ich wusste, dass früher Leute aus dem Dorf Küttigen, das oberhalb von Aarau am Jurahang gelegen ist, mit Gefährten, die einem Kinderwagen gleichen, ihre Ware auf den Markt in die Stadt gefahren haben. Als ich nun diesen Winter gleich zwei Körbe für Küttiger-Chaisen neu flechten durfte, schien mir der Zeitpunkt gekommen, mich mal mit der Geschichte dieser Wagen auseinander zu setzen.

Die Kopie – La copie

Die Körbe der Chaisen sind sehr robust geflochten, doch hatte man offensichtlich auch Freude an der Schönheit des Objektes: die Proportionen der Körbe sind sehr ausgewogen und als Randabschluss haben sie nicht einfach einen Zuschlag, sondern einen Zopf. Die Stosser bestehen nicht einfach aus einem Rundstab, sondern sind schön gedrechselt. Das Fahrgestell ist sauberes Wagner-Handwerk und weil in der guten alten Zeit die Strassen noch nicht asphaltiert waren, waren die Wagen gefedert, damit das Obst und Gemüse auf dem Weg nach Aarau keinen Schaden nahm.

Küttigerinnen am Umzug eidg. Schützenfest 1924 – Femmes de Küttigen au cortège de la Fête fédérale de tir 1924 (2)

Da die Recherche im Internet nur eine bescheidene Ausbeute ergab, erkundigte ich mich bei der Kommission Kulturgut Küttigen nach zusätzlichen Informationen. Fred Schlatter, der Präsident der Kommission wusste zwar auch nicht, seit wann die Chaisen in Küttigen auftauchten, versorgte mich aber umgehend mit seinem Hintergrundwissen:

«Die Küttiger-Chaise war wohl eines der wichtigsten Arbeitsgeräte der Küttigerinnen. Was konnte doch damit alles transportiert werden: Werkzeuge, Saatgut, Znünikratten und auch Kinder steckten darin, wenn man sie aufs Feld oder in den Pflanzplätz stiess; Gemüse und Früchte, dazu nach Feierabend auf dem Heimweg. Am Samstag wurden die Chaisen schwer beladen mit Erzeugnissen aus Garten und Feld für den Markt nach Aarau gefahren.»[1]

«Vielseits besassen die besseren Bauernfamilien sogar zwei Chaisen, die einte um aufs Feld zu fahren und die bessere und schönere um zum Markt zu gehen. Für den Markt in Aarau wurden als letzte Zuladung die Waage mit Metallbecken und Gewichtssteine sowie ein Kässeli oben drauf platziert.

Küttiger Marktfrau zwischen 1930 u. 1935. – Une marchande de Küttigen entre 1930 et 1935. (2)

Bis in die 80er Jahren bewirtschafteten viele Familien als Eigenversorgung eigene Gärten, aber auch nahe Felder ausserhalb des Dorfes gehörten dazu. Nebst allem fanden im Korb der Chaisen auch noch kleinere Kinder ihren Platz. Die hervorragenden Laufeigenschaften der Chaisen mit den eisenbereiften Rädern waren allen anderen Fahrgeräten voraus. Die Federung absorbierte zudem die Schläge auf den holprigen Feldwegen. Dank dem hohen Korb waren Kinder gut geschützt und auf Decken bestens eingebettet.

Auch für schwerere Sachen benutzte man die Chaisen schon früher zum Einkaufen. Nicht selten wurden bis zu den 1960er Jahren grössere Sachen in Aarau mit diesem Fahrgerät, wie z.B. ein Stubenteppich, eingekauft und nach Küttigen gefahren. Für ältere Personen ist auch heute die Chaise anstelle eines Rollators ein willkommenes Hilfsgerät

Aber auch jüngeren Frauen entdeckten in der heutigen Zeit diese Küttiger-Chaisen wieder, so wurden defekte Körbe neu angefertigt und die älteren Gefährte wieder zum neuen Leben erweckt. So gesellen sich heute wieder vor den Einkaufläden wie Coop und der Bäckerei im Dorf einige schöne Exemplare zum Stelldichein.»[2]

Dass sich die Chaise auch im 20.Jahrhundert noch weiter entwickelt hat, kann man den beiden historischen Fotos entnehmen: Während auf dem Foto vom Umzug am eidgenössischen Schützenfest 1924 der Korb noch einem ovalen Stubenwagen entspricht, hat die stolze Marktfahrerin 6 – 10 Jahre später ihre Küttiger-Rüebli in einen eckigen Korb in der heute bekannten Form geschichtet.

Der erste der beiden Körbe, die ich ersetzen durfte war in einem so bedauernswerten Zustand, dass das Eruieren der oberen Masse einer veritablen Recherche gleichkam. Der zweite bestätigte dann das Resultat dieser Untersuchung: Einzig in der Länge war der Korb einen Zentimeter grösser. Beim zweiten Korb brachte der Kunde die ganze Chaise mit, sodass ich erstmals eine Küttiger-Chaise in voller Lebensgrösse zu Gesicht bekam. Man sieht den Körben an, dass sie nicht für einen Stubenwagen geflochten wurden. Es ist einfach alles eine Nummer stärker, als man es erwarten würde: Die Nutleisten, die Rundstäbe und vor allem die Staken. Das fährt dem Flechter beim Zopf dann gehörig in die Knochen und natürlich kommt er dabei auch ins Schwitzen. So erstaunte es mich nicht, dass nach dem Verschlaufen die Fenster der Werkstatt völlig beschlagen waren und keiner mehr sehen konnte, was ich hier eigentlich mache.

Küttiger Chaise mit neuem und altem Korb – Chaise de Küttigen avec le nouveau et l’ancien panier (Foto: Ph. Blattner)

Die Masse des Korbes: Boden: 71,5 x 39 cm, Höhe: 35 cm, Oben: 97 x 50 cm (Eckstock)

[1] „Us eusem Dorf“ Büchlein des Landfrauenvereins Küttigen 1986

[2] „Küttiger Geschichte einer Vorortsgemeinde“ von Alfred Lüthi, Ausgabe 1974

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